Bedeutung alter Gemüsesorten

Bedeutung alter Gemüsesorten: Von Regionalität, Biodiversität und Kulturgütern

In den letzten einhundert Jahren sind nach einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO ungefähr 75% der genetischen Vielfalt unserer Nutzpflanzen, darunter auch viele Gemüsesorten, unwiederbringlich verloren gegangen.

Was sind alte Gemüsesorten?

Alte Gemüsesorten bezeichnen Sorten, die historisch im Anbau waren, derzeit nicht auf dem Saatgutmarkt verfügbar und nach dem aktuellen Saatgutverkehrsgesetz nicht zugelassen sind. Ein großer Teil dieser Sorten wird nur noch in Saatgut-Genbanken erhalten. Es gibt aber auch Erhaltungsinitiativen, Gärtnereien und Privatpersonen, die sich der Erhaltung alter Gemüsesorten auf dem Acker – der sogenannten „on-farm Erhaltung“ – angenommen haben und damit unsere Kulturpflanzenvielfalt lebendig halten.

Weitere Infos zur Erhaltungsarbeit findest du hier.

Warum ist es wichtig, alte Gemüsesorten zu erhalten?

Ernte für die Selektion: Radieschensorte ‘Feuerkugel’, Foto: VERN e.V.

Alte, samenfeste Gemüsesorten als Grundlage für die Züchtung neuer, moderne Sorten

Alte Gemüsesorten sind in ihrem Verhalten und in ihrer Erscheinung viel variabler als moderne Sorten. Eine breitere genetische Basis führt dazu, dass es innerhalb einer Sorte mehr Ausprägungsformen und verschiedene Reaktionen auf Umweltbedingungen gibt. Im Anbau hat diese Variabilität zwar Vor- und Nachteile. In der Züchtung ist diese Vielgestaltigkeit hingegen eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung von neuen Sorten für den Erwerbsanbau. Mit der zunehmenden Bedeutung des ökologischen Gemüsebaus steigt der Bedarf an Sorten, die sich genau für diese Anbauweise eignen. Den Züchter*innen schwindet jedoch durch die zunehmende Ausbreitung von nicht nachbaufähigen Hybridsorten die Grundlage, neue Sorten zu entwickeln. Es bedarf daher der Erhaltung alter, samenfester Gemüsesorten als Grundlage für die Züchtung von neuen, modernen Sorten.

Alte Gemüsesorten als Gemeingut für die Unabhängigkeit der Gärtner*innen und Ernährungssouveränität

Der kommerzielle Saatgutmarkt wird von wenigen Unternehmen bestimmt, die eine starke Ausrichtung auf den intensiven, großflächigen Erwerbsanbau haben und ihre Züchtungen mit teuren Lizenzen, z.T. sogar Patenten, vor Nachbau schützen oder die Sorten selbst nicht nachbaufähig machen.

Alte Gemüsesorten hingegen sind grundsätzlich samenfest und werden als Gemeingut verstanden. Das bedeutet, die Gärtner*innen können das Saatgut alter Sorten selbst vermehren, im Folgejahr zur Aussaat verwenden und müssen es nicht zukaufen. Ebenso können Züchter*innen, Erhaltungsinitiativen und Vermehrer*innen das Saatgut dieser samenfesten Sorten zur Züchtung nutzen und weiterentwickeln. Damit sichern sich die Gärtner*innen Unabhängigkeit von der Saatgut-Industrie und können selbst entscheiden, welche Sorten sie auf ihrem Acker anbauen wollen und welche Sorten schlussendlich im Verkaufsregal landen. Denn wer die Saat hat, hat das Sagen.

So bearbeitet zum Beispiel der Samenbau-Betrieb Keimzelle seit 7 Jahren die alte Bohnen-Sorte ‘Berliner Markthallen’ erhaltungszüchterisch. Der Fokus liegt dabei darauf, die Merkmale Fädigkeit, Hülsenansatz und Geschmack weiter zu verbessern. Die Keimzelle vermehrt Saatgut dieser Sorte u.a. für die Gemüsebau-Betriebe im SaatGut-Erhalter-Netzwerk Ost. So werden die ‘Berliner Markthallen’ wieder angebaut und in Hofläden, auf Märkten oder in der SoLaWi von Netzwerkbetrieben angeboten. Durch diese Zusammenarbeit schaffen sich die Betriebe des Saatgut-Erhalter Netzwerk Ost nicht nur Unabhängigkeit von großen Saatgut-Konzernen, sondern entwickeln gleichzeitig gemeinsam eine immer besser an die regionalen Bedingungen angepasste Bohnen-Sorte!

Selektion der Möhre ‘Bauers Kieler Rote’ bei der Keimzelle

Alte Gemüsesorten zur Steigerung der Biodiversität

Indem alte Gemüsesorten erhalten werden, wird die Sortenvielfalt und damit auch die genetische Vielfalt auf dem Acker erhöht. Diese Vielfalt ist wichtig, denn nur ein vielfältiger Genpool ermöglicht es, auf zukünftige Entwicklungen und veränderte Nutzungsansprüche zu reagieren und Sorten zur Verfügung zu haben, die resilient gegenüber diversen klimatischen Bedingungen wie Trockenheit und Hitze oder Pflanzenkrankheiten sind.

Alte Gemüsesorten für eine regionale Standort-Angepasstheit

Alte Gemüsesorten sind grundsätzlich samenfest und dadurch nachbaufähig. Durch die Vermehrung der Sorten durch Samenbau-Betriebe in der Region können sich die Sorten an die klimatischen Bedingungen und Bodenverhältnisse in der Region anpassen. Dadurch können die Gemüsebau-Betriebe in der Region erstmals wieder ausgewählte alte Sorten aus regionaler Erhaltung und Vermehrung, die an den Standort angepasst sind, anbauen und interessierten Kund*innen anbieten.

Bestand der Schwerterbse ‘Graue Florentiner’ bei der Solawi deinHof

Alte Gemüsesorten für den Erhalt von Kulturgütern

Jede alte Gemüsesorte erzählt eine Geschichte über die Zeit, in der sie entstanden ist, und über die Menschen, die ihr Sortenbild geformt haben. Jede Sorte erzählt auch etwas über die Anbauweisen, Geschmacksgewohnheiten und die politischen Rahmenbedingungen zu der jeweiligen Zeit. Die Entwicklung einer Sorte über mehrere Jahre ist eine kreative Leistung, die Wissen und Geschick erfordert. Dabei wurden die Sorten von den Züchter*innen grundsätzlich immer aus älteren Sorten oder Ausgangspopulationen weiterentwickelt. Anschließend wurden diese sogenannten Landsorten über Generationen hinweg an einem Ort angebaut und bildeten besondere Charakteristika heraus. Darüber hinaus war es schon immer üblich, Saatgut über kurze und weite Strecken zu tauschen. Es ist wichtig, dieses kulturelle Erbe zu erhalten und die über Jahrhunderte entstandene Vielfalt an Gemüsesorten nicht verloren gehen zu lassen. Nicht nur Saatgut stellt ein wertvolles Kulturgut dar, auch das Wissen über die Zucht und die Vermehrung von Saatgut ist ein immaterielles Gut vergangener Generationen, das es zu erhalten gilt.

Die alte Zwiebel-Sorte ‘Frühe Blassrote’ zum Beispiel stammt aus dem Erfurter Raum und ist dort mindestens seit dem mittleren 19. Jahrhundert bekannt und beliebt. Sie ist eine frühe Säzwiebel-Sorte mit einer hellrot leuchtenden Schale. Im 20. Jahrhundert wurde sie vom Züchter Rudolf Bulin für das Erfurter Züchterhaus F.C. Heinemann züchterisch verbessert und war seit den 1950er Jahren in der DDR zugelassen. Seit 1993 liegt das Saatgut dieser Sorte zur Erhaltung in der Saatgut-Genbank des IPK Gatersleben. Das SaatGut-Erhalter-Netzwerk Ost hat zusammen mit der HU Berlin das Saatgut dieser Sorte wieder aus der Genbank geholt, sodass sich die diese Zwiebel-Sorte seit 2020 wieder auf unseren Äckern befindet und weiterentwickeln kann.

Alte Gemüsesorten für eine Vielfalt an Geschmack und Aussehen

Im Gegensatz zu den Normgrößen und dem einheitlichen Aussehen der modernen Gemüsesorten, die im Supermarkt zu finden sind, zeichnen sich alte Gemüsesorten durch eine Vielfalt und Vielgestaltigkeit aus, die für uns heute oftmals ungewohnt ist.

Die alte Radieschen-Sorte ‘Purple Plum’ überrascht durch ihre violette Knolle und ihren mild aromatischen Geschmack. Die Sorte ‚Rundes Gelbes‘ hat hingegen eine gelbe Knolle und kommt geschmacklich eher scharf daher.

Bei der Erhaltung und Vermehrung von alten Gemüsesorten stehen die besonderen Sorteneigenschaften, die geschmackliche und optische Vielfalt als auch ihre Widerstandsfähigkeit und ihre Ertragseigenschaften im Fokus.

Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, alte Gemüsesorten zu erhalten, um auf zukünftige Entwicklungen und Herausforderungen reagieren zu können. Wir alle sind dazu aufgerufen, einen persönlichen Beitrag zu leisten, Verantwortung zu übernehmen und zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit beizutragen!

Geschmacksselektion des Radie ‘Gelbes’ Foto: Keimzelle
Selektion des ‘Scarlet turnip white tip’, Foto VERN e.V.

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